Donnerstag, 21. Januar 2016

Alles gut.

Es ist 9:45h morgens, ich bin auf dem Weg zur Uni. Ein älterer Mann bahnt sich seinen Weg durch die M27 in Richtung Türe. Warum er jetzt schon aufsteht, frage ich mich – wir haben doch die letzte Station gerade erst passiert! Dann sehe ich: Er geht sehr (sehr) langsam. Zitternd sucht seine Hand nach einem Halt an den hängenden Halteschlaufen, die für ihn, wie auch für mich, etwas zu hoch sind. Ich überlege, ob ich ihm helfen sollte, entscheide mich dann aber dafür, dass jeder Mensch mit seinen Vor- und Nachteilen gelernt hat klarzukommen. So auch er. Wir halten an. Vor ihm noch ungefähr acht Leute, die nicht aussteigen wollen. Langsam, ganz langsam bewegt er sich zur Türe. Ich weiß was los ist: er muss raus, bevor der Bus losfährt. Plötzlich geht die Türe zu, der Bus schwankt von der schrägen Halteposition in die gerade Fahrtposition und brummt los. „Da will noch einer aussteigen“, ruft jemand dem Fahrer zu - aber zu spät. An der nächsten Station steigt der alte Mann aus. Er macht zehn- oder zwanzig-Zentimeterschritte in Richtung seiner alten Haltestelle. Es ist kalt in Berlin. Zu kalt, um so langsam zu laufen, auf einem Weg, auf dem man gar nicht sein wollte. Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig geholfen habe, es tut mir leid, dass er zurücklaufen muss, es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe.

Manchmal denkt man, es ist egal, wie man handelt in solchen Situationen, manchmal denkt man, es käme darauf an, was die anderen von einem denken. Keiner denkt: warum hat das Mädchen nichts gesagt? Jeder denkt: warum habe ich nichts gesagt? Keiner denkt: warum habe ich drüben im Senegal dem Busfahrer nicht gesagt, er solle anhalten, weil ein alter Mann aussteigen wollte. Das Nähe-Distanz-Dilemma und die ganze Ethik bricht sich in diesem Moment auf Entscheidungen runter, die ich getroffen habe. Ich muss niemandem was beweisen - aber mir selbst. Nämlich, dass ich das tun kann, was mir dringlich erscheint. Dass ich vor mir selbst verantworten kann, wie ich handle - auch, wenn ich nicht-handle.