Mittwoch, 20. Juli 2022

Huayna II - Uyuni - La Paz

Ich bin zum dritten mal in Südamerika - drei Jahre später, zum dritten Mal in La Paz. Als ich ankomme ist es, wie damals, noch dunkel. Diesmal ist Johanna nicht da, um mich abzuholen, weil sie in Deutschland ist. Ich warte, bis der Teleferico anfängt zu fahren. Durch Wolken kommt das erste Licht - in mir kommen Erinnerungen: hier war ich. Im Teleferico gondel ich hinunter von El Alto Richtung Rosario und habe den bekannten, wunderschönen Blick über die Stadt mit ihren Morgenlichtern. Ich grinse. "Sind Sie zum ersten Mal hier?" fragt nicht ein Mann auf Spanisch, der mit gegenüber sitzt. Wir sind allein und dennoch fühl ich mich sehr wohl. Diese Unaufdringlichkeit. "Nein", sage ich freundlich in meinem noch etwas brüchigen Spanisch. "Ich habe eine Schwester, die hat hier sieben Jahre gewohnt, die habe ich vor drei und vor fünf Jahren schonmal besucht". Eine Geschichte, die ich noch öfter erzählen werde und die mir offenes Willkommen einbringt, als hätte ich selbst hier gewohnt. "Ah", sagt der Mann lächelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen, "dann kennst du dich ja aus..." und nach einer Pause: "Magst du es hier?". "Ich liebe La Paz", antworte ich grinsend, selber überrascht von meiner euphorischen Antwort. Aber so fühlt es sich an. Der Teleferico schaukelt sanft.

Zusammen mit Sonja breche ich zwei Tage später auf nach Uyuni, zu der Salzwüste, in der ich 2015 schonmal war. Diesmal sind wir gleich Teil der Gruppe (drei lustige verkaterte Engländer und ein Franzose) und ich habe keinen Hass mehr auf Touristen. Im Gegenteil, ich merke, wie mir die Leute mit Interesse entgegenkommen und wie sie selber so viele Geschichten haben. Ein Mädchen aus Schweden hebt bewundernd-strahlend ihre Augenbrauen, als ich ihr sage, dass ich Mathematik und Philosophie kombiniere. Ich denke an meine Oma, die das auch ein paar Tage vor ihrem Tod mit demselben Strahlen zu mir gesagt hat. Wir streifen durch die Wüste. Diese unwirkliche Landschaft. Kakteen gibt es keine mehr, dafür aber Wasser, ganz viel Wasser, soweit das Auge reicht. Das Salz wird davon nur etwa zehn Zentimeter bedeckt aber das reicht für einen endlosen Spiegel. Im Salz bilden sich Kristalle, die mich an meine Masterarbeit (Ebene kristallgraphische Gruppen) erinnern. "Es gibt nur 230  Raumgruppen und 17 in der Ebene", sage ich nerdig zu Sonja, die dafür seltsamerweise Interesse findet.

Wieder zwei Tage nach der Wüste beginnt das eigentliche Abenteuer, für das ich seit 2019 nochmal herkommen wollte: der Huayna Potosi. "Wenn wir das schaffen, mach ich noch ein Tattooo!", sage ich zu Sonja und denke zweifelnd an die ganzen Leute, denen ich schon gesagt habe, dass ich es versuche. "Natürlich schaffen wir das!", sagt Sonja ohne den geringsten Zweifel. Manchmal braucht man Leute, die nicht zweifeln.

Wir beginnen mit dem Aufstieg, wie damals, morgens um halb eins - nach einer Nacht mit nur wenig Schlaf aufgrund der Höhe und trotz Cocatee. Ich bin froh, dass ich kein Kopfweh habe und mich überhaupt gut anpassen konnte innerhalb der letzten Woche. Wir stiefeln los. Mit Steigeisen im Rucksack, mit Schneejacke und -Hose, mit Schokolade und Tee. Schon nach 20 Minuten möchte ich umdrehen und denke: warum mache ich das Ganze überhaupt?! Vielleicht schaffe ich es eh wieder nicht bis ganz oben. Die ganzen Zweifel kommen auf einmal. Ich bin nicht gut genug, schnell genug, stark genug. Dann denke ich aber: momentan bin ich weiter als die, die es gar nicht versucht haben. Meine Schwester sagte: Am Berg nur positive Gedanken, Maria. Ich denke an meine Oma mütterlicherseits, die mir mit windzerzausten Haaren entgegengrinst wie damals in Griechenland. Ich grinse zurück und denke an die vielen Urlaube mit ihr und die ständige Abenteuerlust in ihren Augen. Schon sind wir 200 Meter weiter gegangen. Inzwischen haben wir die Steigeisen an, die dafür sorgen, dass wir in Schnee und Eis Halt finden. Zum Glück gibt es einen Trampelpfad im tiefen Schnee. Ich hole meinen Pickel raus und trage ihn zur Bergseite damit ich alles richtig mache - so wie wir es geübt haben. Gedanken ans Nichtschaffen verdränge ich.

Eine Stunde später kommt eine Eiswand, die wirklich schwer zu besteigen ist. Als ich bei der Wand oben angelangt bin, muss ich weinen, weil ich enttäuscht von mir selber bin. "Ich bin eben nicht so stark wie andere", sage ich zu Sonja, die mich kurz tröstend in den Arm nimmt. Unser Guide gibt mir ein Taschentuch, "damit die Tränen nicht anfrieren", sagt er verlegen grinsend. Eine weitere Stunde später sage ich zu ihm: "hier bin ich letztesmal umgekehrt", was aber nicht stimmt, wie ich zwei Stunden später merke, als wir wirklich an der Stelle sind. Wir gehen stetig und trinken Tee zwischendurch. Ich mache mir gute Gedanken. Jeder schlechte Gedanke verlangsamt mich. Vor allem der, dass ich es nicht schaffen könnte, nimmt mir alle Kraft auf einmal. Ein Stückweit hinter dem Punkt, wo ich damals umgekehrt bin merke ich, dass ich es diesmal wirklich schaffen könnte. Lachend und weinend drehe ich mich zu Sonja um. "Natürlich schaffst du das!" ist ihre unbeeindruckte Antwort und ich merke, dass sie in keinem Moment daran gezweifelt hat. Sie kennt ja meine Gefühle vom ersten Aufstieg nicht, das Aufgeben, die einmalige Chance, der Schnee, wieder in Deutschland sein, an den Berg denken, mein sechs Monate blauer Zehennagel. Und jetzt bin ich hier. Jetzt ist dieser Morgen, an den ich so oft gedacht habe. An dem ich versuchen, nach oben zu kommen.

Jede Etappe und jeder Schritt zählt. Nicht nach oben schauen, nicht die anderen Gruppen in der Ferne sehen, nicht sich fragen, wie das gehen soll. Die Stirnlampen schimmern leise, langsam kommt der Morgen. Und da ist der Gipfel in Sicht, vor mir noch etwa 500 Meter. Die langsamsten 500 Meter meines Lebens. Alle paar Schritte setze ich mich hin. Die anderen zwei warten. Nur kurz können wir auf dem Gipfel sein, feiern, lachen, Fotografieren, dann müssen wir wieder runter, weil die Sonne aufgeht und der Schnee unsicher wird. 6088 Meter! Über dem Land seh ich den riesigen Schatten des Huayna Potosi. Ein großes gleichmäßiges Dreieck, das fast bis zum Horizont reicht. Neben mir die Cordillera Real. Man sieht La Paz, man sieht tausend kleine Wolken, den Regenwald in der Ferne und eine Morgenstimmung, die man sonst nur aus dem Flugzeug kennt (oder aus dem ersten Besteigungsversuch). Jeder Blick ist wunderbar und voll. Ich bin dankbar und glücklich. Der glücklichste Moment aber war kurz unterm Gipfel, als ich realisiert habe, dass ich es diesmal wirklich schaffen kann.