Samstag, 9. Dezember 2023

Soldiner Ecke Prinzenallee

Es gibt bei uns eine Kreuzung, da ist Penny Wedding diagonal gegenüber der Stephanus Kirche. An der anderen Ecke ist eine Bar, die heißt 45°, da werden an Wochenenden Nachts immer Frauen angeschrien, die aber auch zurückschreien. Ich hab mich noch nie in diese Bar getraut. Es geht ziemlich wild zu. Der Security von Penny schaut gelangweilt und manchmal denke ich er wäre lieber Bouncer beim Berghain um sicherzustellen, wer reinkommt. Jogginghose tragen die meisten. Freundlich sind die wenigsten - aber gemessen an was? Gemessen an meinem Leben im Wedding gibt es hier immer noch sehr viele helle Momente. Vor allem wenn dann mal eine Interaktion passiert, rettet das manchmal den ganzen Tag. Heute früh, ich war auf dem Weg zum Gesundbrunnen-ICE, da lief ein Mann mit Blindenstock quer über die Kreuzung, also so richtig in die Mitte. Ich hatte Gitarre, Verstärker und alles dabei und dachte: oh nein, ich muss hin! Da hielt aber schon ein Klein-LKW, auch mitten auf der Kreuzung, ein Mann sprang raus, zwischen Penny und Kirche und half dem Mann auf die andere Seite. Dann sprach er noch eine weile mit ihm, deutete auf die Kirche und auf den Gehweg und schien zu erklären, wo hier was ist. Ich war so verblüfft dass ich nicht wegschauen konnte. Die M27 kam. Der Klein-LKW stand immernoch. Ich verpasste fast den Bus. Das Ende der Szene bekam ich nicht mit, aber der Fakt, dass die eine Person anhielt, die andere ausstieg und dann noch lange bei dem Mann stand, das hat mir die kurzen Dezembertage gleich wärmer gemacht. Ich liebe solche Tage. Und dann passieren mir plötzlich auch solche Dinge.

Das Flüstern der Welt

Japan. Ich dachte nicht, dass ich noch so viel neues sehen kann. Ich wollte auch nicht unbedingt wieder fliegen. Aber meine Tante lebt dort seit 36 Jahren, also genau seit meiner Geburt, und ich wollte schon lange für meine Mama die Reise planen. In Berlin war es kalt und ich habe eine Wärmflasche eingepackt - umsonst. Ich schreibe N. gleich am ersten Tag in Japan, dass ich die Jurte in Auftrag geben möchte. Wir kommen in Nara an und die Sonne scheint. "Nicht alle Entscheidungen müssen unter dem Gesichtspunkt, dass sie sich finanziell lohnen, getroffen werden!", sagt Sandra und spricht mir so aus der Seele. Näher am Himmel und näher an der Erde wollte ich sein - Wo die Jurte stehn wird, weiß ich aber noch nicht.

In Nara gibt es wunderschöne Tempel und Schreine und ich bete gleich morgens direkt neben anderen Menschen, die sich alle nicht nur in Ruhe lassen sondern auch sehr höflich aufeinander acht geben. Ich fühle mich wohl irgendwie, weil ich merke, dass sich hier alle im Blick haben. So angenehm. Wir räuchern neben einem Ginkobaum, reden über Religionen und zünden eine Kerzen für Großmutter an. Es tut gut, auch in der Familie so denken zu können, dass die Verstorbenen Teil von unserer Welt sind. Die ganzen zwei Wochen besuchen wir ganz viele Tempel und Schreine und essen wahnsinnig leckeres Essen überall. Manchmal gibt es sieben Gerichte: etwas rohes, etwas gekochtes, etwas gebratenes, etwas eingelegtes, etwas frittiertes und noch etwas. Meine Tante und mein Onkel wissen so viel über das Land und die Geschichte, dass ich mir gar nicht alles merken kann. Sie sprechen perfekt Japanisch und unterrichten Aikido und Tee und arbeiten an der Hiroshima University.

Man kann wahrscheinlich viel über Japan sagen. Auch, dass nicht alles perfekt ist. Zum Beispiel dass das Land kaum Flüchtlinge oder Einwanderer annimt (momentan gibt es 2% Ausländer). Aber gleichzeitig war vieles so toll. Die Teezeremonie, das Aikido, das Onsen von Spirited Away, die Umgangsformen, die Freundlichkeit. Wie es jemand wohl geht, der oder die dann nach Deutschland kommt, frag ich mich. Vor allem in den Wedding. Jeden Tag muss ich hier einen nervigen, unfreundlichen oder sexistischen Kommentar abschütteln und wenn es nur bei Worten bleibt, kann man (Frau!) schon froh sein. Im Bus ist alles eng und keiner nimmt wahr, was hinter einem passiert. Es wird geschubst und gedrängelt, sich missverstanden und geschimpft. Aber ich mags auch manchmal. Berlin halt. Nut ist es so anders von hier, wo ich jetzt bin. Wo so viel mehr Platz zu sein scheint für jeden Menschen und so viel mehr Rücksichtnahme. Die Kehrseite ist wahrscheinlich, dass jeder darauf achtet, was man tut. Wo ich die Stäbchen hinlege und wie. Man kann alles falsch machen. Die Schuhe, das warme Handtuch, die beheizten Toilettensitze und die Podusche. Alles ist komfortabel und alles ist so durchdacht. Man muss einfach nur nicht dumm sein und vor allem nicht denken, dass es egal wäre, wie man sich verhält. Ob das auf Dauer nicht anstrengend ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur: es ist ein krasser Gegensatz zu Berlin.

Als wir wandern sehe ich vor uns den Berg Miwa. Er ist heilig, wie vieles hier, aber er ist besonders heilig. Die Gottheit des Bergs heißt Omononushi no Okami und ich finde den Klang schön. Auch die Sprache generell. Am Fuß des Bergs ist ein Gedicht in einen Stein gemeißelt:

My dear Mount Miwa! The mountain that I often think of because I long to see it again, searching for it hidden among the numerous mountains of Nara, with the road to it turning and twisting continually. It seems to have been hidden so mercilessly by the clouds.


Welche Wesen hier wohnen weiß ich nicht. Auch verstehe ich wenig von der Sprache, von der Poesie und kann ganz vieles nur erahnen. Ein älterer Mann verkauft Khakis und Mandarinen am Weg, er lächelt freundlich. Die Luft ist still, die Farben stark und viele Pflanzen hier sind mir neu. Oft ist mir, als würde die Welt einfach nur zu mir flüstern.