Donnerstag, 10. November 2022

Die Insel ohne Zeit

Du weißt, dass etwas nicht ganz richtig gelaufen ist, wenn du versucht, rückwärts aus dem Flughafen rauszukommen. Zurück durch die Passkontrolle, den Duty Free, beim Check-In an der Seite vorbei, komische Blicke der Security ernten und erklären, dass du irgendwie rauswillst aus dem Flughafen auf einem Weg, den keiner sonst geht. Meine ID hat nicht gereicht, um über London Luton zu fliegen - den Brexit habe ich beim Packen nicht ernst genug genommen. London Heathrow wäre vielleicht noch gegangen - oder Stansted. "It's a Point to Point Airport", erklärt mir die Dame vor dem Flugzeug, in das ich nicht einsteigen kann, "You need your passport". Ich erkenne keine Spur Mitleid in ihren Augen, nur Verwunderung. Eine kurze Stunde sitze ich noch verloren rum und suche Flüge, beschließe dann aber, dass der Flughafen kein Ort ist um zu bleiben und buche ein Hostel im Zentrum von Thessaloniki. Immerhin fährt der Bus noch dorthin, es regnet zum erstenmal seit Wochen und er kostet nur 90 Cent für 45 Minuten Fahrzeit. Es ist dunkel geworden. Jetzt kann ich endlich über Ikaria schreiben.

Die Menschen sprechen das Wort „Ikaria“ wie ein Gut bewahrtes Geheimnis aus und öffnen dabei lächelnd ihre Augen ein bisschen weiter. Es sei eine gute Idee, dorthin zu gehen - in Ikaria gibt es keine Zeit, sagen sie. Was?! Ich wundere mich und bin gleichzeitig voller Vorfreude. Als wir in Ikaria ankommen, wissen wir, was gemeint ist.


Godiwa holt uns mit Freunden von der Fähre ab. Wir fahren zum Meer, setzen uns in eine geschlossene Taverne, werden vom Eigentümer zu Essen und Wein eingeladen und baden in heißen Quellen. Wir machen keine Pläne, nur das, was gerade dran ist. Morgens schon trinken die Leute Wein und abends Kaffee. Sonja und ich machen mit - ich konnte mich eh nie daran gewöhnen bis um vier zu warten. Mit Godiwa besuchen wir lauter Menschen, die sie kennt, weil sie seit einem Jahr hier wohnt. Alle freuen sich, wenn sie kommt. „Die Menschen auf der Insel wissen irgendwie immer, wo der rote Bus steht“, sagt sie lachend. „Und dann muss ich natürlich auch hallo sagen“. Sie hat Griechisch gelernt, was auf eine Art wie Dothraki klingt, und sieht dabei auch ein bisschen aus wie Kaleesi. Ich bewundere sie. Einfach weg von Berlin, einfach im Bus leben, einfach Griechisch lernen und die Menschen hier kennen (wenn auch sicher nicht alles so einfach ist - manchmal stellt man es sich gerne so vor). „Ich kann auch nicht mehr zurück zum Alten. Wenn ich mir aussuchen kann, wie ich lebe, dann werde ich es tun“, sagt Godiwa und zieht ihr blaues Kleid an. Sonja und ich haben viel zu warm gepackt. Hier ist es für unsere Verhältnisse Sommer. In Sandalen und Badetuch gehen wir runter zum Ikarus, dem Stein, auf dem Ikarus, Sohn des Daedalus, abgestürzt ist, als er mit seinen selbstgebastelten Flügeln zu nah an die Sonne kam. Wunderschön und rot geht die Sonne auf und Sonja und ich spielen unser Lied: "Der Weg nach vorn ist immer schwerer, der Weg zurück ist immer leicht...". Ich denke an Berlin und frage mich, was mein Weg nach vorne ist.



Jeden Tag schwimme ich im Meer, jeden Tag machen wir Musik und jeden Tag essen wir wunderbare sachen: Oliven, Feta, Tomaten, Kiwi, Granatäpfel, Khakifrucht, Kaktusfrucht, Mandeln vom Baum, frittierte Auberginen, Pistazieneis. So vieles wächst hier, Farben über Farben, Blüten über Blüten - und das mitten im November. Die Insel ist voller Geheimnisse und magischer Orte. Ich kletter zu einer Frau aus Stein, die da sitzt und die Insel bewacht. Sie kommt mir unendlich weise vor. In ihrer Nähe gibt es unsterbliches Wasser, das Nierensteine rausspülen kann. Hier gibt es so vieles, was ich nicht weiß. Das Meer lehrt mich viel: Wie sich alles immer verändert. Wie die Wellen rauschen. Die Gitarre, der Wein, die Wellen, die Gastfreundschaft. All das wird vom Meer gewusst, aufgenommen und widergespiegelt. Oft ist es ruhig, aber immer hört man den leichten Rhythmus der Wellen, als wollte es sagen: schau, es geht immer weiter. Es ist gut.


Zum Abschied schenkt Godiwa uns Kühlschrankaufkleber mit internationalen Zeiten und unter „Ikaria“ eine leere Uhr. Wir vergessen, sie mitzunehmen und auf wundersame Weise bleibt sogar die Erinnerung an die Zeitlosigkeit auf diesem wunderschönen und gut bewahrten Geheimnis, Ikaria.


Drei volle Tage verbringe ich noch in Thessaloniki nach meiner Passgeschichte, treffe Hostel-Menschen, rauche meinen Tabak auf und beschließe (wie schon so oft), nicht mehr zu rauchen. Ich gehe wieder runter zum Hafen und aufs Filmfestival-Gelände, denke an die vergangenen Tage und an kommende. „Hier ist überall Musik“, sagt mir Amir vom Crossroads Hostel, mit dem ich morgens immer Kaffee getrunken und abends Gitarre gespielt habe, lächelnd. Ich nicke: es stimmt. Die Stadt ist ganz anders, als Ich dachte. Viel lebendiger, viel freundlicher und leichter. Hier kann man gut sein, denk ich mir. Die Birkenstocksandalen, die Magie, der Sommer. So sitze ich in Thessaloniki am Hafen, sehe noch mehr Boote vorbeifahren und genieße mein Leben zwischen Einsamkeit und Freiheit.

 

Durch freundlich beleuchtete Treppen-Straßen gehe ich am Mittwoch schließlich runter zum Bus. Zwei Katzen streiten sich. Es ist 4h morgens. Noch keiner ist wach außer der Bäckerei. Ein leiser Brötchenduft erreicht mich und ein Hund gähnt weit. Zum vierten Mal zahle ich 90 Cent für den Flughafenbus und steige ein. Ich gehe den richtigen Weg durch den Check-in, vorbei am Duty Free und erfolgreich durch die Passkontrollen. Als ich ins Flugzeug steige, überkommt mich das leichte, gute Gefühl des Unterwegsseins: Ich bin froh, meinen Pass vergessen zu haben, froh über die Tage, die ich verbringen durfte und die Menschen, die ich traf, dankbar für die vielen Eindrücke und alles, was die Wellen und Steine mir zugeflüstert haben.

Keine Kommentare: