Sonntag, 2. Dezember 2007

aufgeräumt

Ich habe den Lycheesaft weggekippt, weil er alt war. Die tristen Gedanken habe ich weggekippt, weil sie unnütz sind (es sei denn ich habe ihren Nutzen noch nicht ganz verstanden). Die Sorge, nicht ganz da zu sein, wo ich bin, nicht alles zu tun, was ich tun könnte, die hatte ich auch früher schon, hatte ich auch anderswo. Während der Schulzeit, während der Ferien – im Abi und sogar auf Artabenfahrten, die ja nun wirklich so nah am Leben dran sind, dass man nicht ins Grübeln kommen müsste! Ja, an die Jugendgruppe denke ich noch am liebsten (am zweitliebsten, entschuldige) und das sind auch die Abenteuer, von denen ich erzähle, die Lieder, die ich hier singe. Ja videl divoké kuňe (ich habe wilde Pferde gesehen) – ist zwar ein Tschechisches Lied, habe ich aber trotzdem gern dem Sohn der mysteriösen Familie beigebracht, als wir gestern so vorunshingejamt haben. Und er hats gern gelernt, hat dazu improvisiert und schließlich habe ich mich geärgert, dass uns niemand aufgenommen hat. Was hätte ich das gern noch mal angehört. Bei Haider ist es nämlich so, dass er plötzlich aufhört mit der Gitarre und meint, er kann nicht spielen, wenn es jemand von ihm erwartet. Aber ich erwarte doch nichts! Und ich bin nur so selten da. Das war jetzt exakt zwei Wochen her, als ich gesagt hatte, ich komme auf alle Fälle wieder. Als ich dann gestern ganz unangemeldet zu Tür reinkam, saßen sie da alle auf dem Boden und haben gelacht und sich gefreut, dass ich da bin. Das sind wirklich die allernormalsten Menschen, die ich bisher hier gefunden habe. Die leben da einfach mit ihren Kindern und Ehemännern und Enkeln und Hausangestellten und man kann dazukommen und nichts ist komisch. Sogar der Hausvater, vor dem ich mich vielleicht benehmen sollte oder zumindest nicht vor seinen Augen gleichmal ins Zimmer seines Sohnes verschwinden (denn das geht in dieser Kultur unverheiratet eigentlich nicht), schafft es immer wieder, dass ich mich ganz normal fühle. Wie daheim eben.

Daheim habe ich mich heute morgen schon wieder gefühlt, als Helen Plätzchen gebacken hatte (ist doch 1. Advent, ne?) und echter Kaffee in meiner Tasse war. Verrückt, was für Bilder und Erinnerungen so ein bekannter Geschmack hervorrufen kann. Aber ich mag auch neue Geschmäcker. Manche jedenfalls. Gestern habe ich ein zähes verwürztes Hühnchen gegessen und überlegt, ob ich Vegetarier werde. Das überlege ich hier etwa dreimal am Tag. Auf den Straßen hängen die halben Ziegen und Rinder vor den Läden. Ihre Köpfe liegen rum, daneben die Füße – schön gebündelt wie Karotten oder Radieschen auf dem Markt. Wenn ich in den Kochtopf gucke, kann ich darin kein Fleisch erkennen, sondern Knochen, Fett und Fellreste. Magen und Gehirn sollen ganz vorzüglich schmecken, sagt man mir. Ich frag schon nicht mehr nach, was wir da gerade essen. Essen sollte ich überhaupt weniger – das steht in keinem Verhältnis mehr zu dem, wie ich mich bewege oder was ich schaffe am Tag. Manchmal kommt es vor, dass ich nach dem Fußball (inzwischen auch mit allen Gärtnern und Fahrern und Nachtwächtern, mit Hinundherpassen und Corner und Aus) noch joggen gehe, soweit ich eben kann ohne Gefahr zu laufen, dass mich jemand aus dem Dorf sieht und gefangen nimmt. Dann merk ich erst die Kraft in mir, und möchte die ganze Nacht weiterlaufen und auf Berge klettern und in Flüsse springen. Aber das schrieb ich ja schon. Klar sind die Gewässer – so es sie denn gibt – ohnehin nicht. In die Berge kann ich vielleicht wenn wir Ferien haben. Aber das weiß man hier nie. Verplant. Ich möchte eigentlich nicht verplant sagen – das ist doch wieder ein ewiges Urteilen über die ganze Kultur und über die Rolle der Frau und über die Handhabung der Religion.
Handhabung ist ein lustiges Wort dafür. Es ist nämlich ganz oft so, dass ich im Gespräch erfahre, sie (manchmal auch er) schämt sich, dass sie nicht streng nach dem Koran lebt. z.B. doch gerne mal daran denkt, mit einem Mann zusammen zu sein oder sogar die Hand eines solchen gehalten hat. Und auf den Straßen gehen die Männer dann Arm in Arm und Hand in Hand – es hat eben doch jeder Mensch ein natürliches Bedürfnis nach Nähe, woher und wozu diese oktroyierte Geschlechtertrennung?? Ja, sagt man mir dann, und bei euch haben alle Frauen in deinem Alter Kinder – unverheiratet. Das ist nicht ganz wahr, versuch ich mich zu verteidigen, und hier haben sie doch noch früher Kinder. Dafür trennen sich eure Paare immer wieder. Ja, manche schon. Wieso ich denn nicht heiraten will, wenn ich meinen Freund doch liebe. Heiraten, jetzt?

Mich beschleicht wieder einmal das Gefühl, von unserer Kultur, von meiner Religion mehr angetan zu sein. Dabei hat alles seine Plusse und Minüsse (ist es z.B. nicht so, dass die Menschen hier einfach fröhlicher sind im Ganzen?)! Ich arbeite weiter an einem neutralen Standpunkt! Vielleicht pendelt es sich aber auch nicht ein…



(bitte um Korrektur bei Mhz von Plus und Minus)

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

liebe maria, hier ist olga, wir sehen uns auf projekt.tagung.
du warst kurz vom ende des abis, und ich war irgendwo.
vielleicht erinnerst du dich?
ich verfolge mit großem interesse und bewunderung ,die dinge die du berichtest.
bewunderung, weil ich die selbstreflektion, selbstkritik und die strenge ausseinandersetzung mit deiner jetztigen realität eben bewundernswert finde.
du bist in projekt.zeitung gedruckt, und erst recht diese auszüge haben mich verleitet mich hier bei deinem blog zu wort zu melden.
ich wünsche dir von hier aus , noch eine gute und erfahrungsreiche zeit,
und sei nicht zu selbstkritisch, ja?


umarmung,
olga